Figurentheater trifft Pädagogik

Figurentheater: Faszination und Möglichkeiten eines Mediums

Woran liegt es, dass sich Kinder und Erwachsene gleichermaßen von Figurentheater faszinieren lassen? Von toter Materie; denn mehr ist es ja nicht, was da vorgibt, zu leben: ein Häuflein zusammen gestutztes Material. Und dieses immer wieder neu erwachende Leben unterliegt nur einer Regel: Tu so, als ob!

Wird diese Regel befolgt, dann agiert diese Materie plötzlich in ihrer kleinen Welt. Sie wird lebendig, handelt, spricht, leidet – und verdichtet mit ihrem Spiel kleine und große Zusammenhänge des Lebens und der Welt. Das Material wird zum Charakter und zur Persönlichkeit. Doch nur, solange ein*e Spieler*in es hält!

Zieht diese*r sich zurück, erleben die Zuschauenden den glaubhaftesten Bühnentod. Kein*e Schauspieler*in, noch so gut in der Rolle eines Sterbenden, könnte diesen auch nur annähernd darstellen. Denn er oder sie würde den Tod – gleich wie – nur spielen. Doch die Figur ist tot. Ganz und gar. Somit vereint dieses Medium in sich gleichzeitig Leben und Tod wie kein anderes. Und kann genau das auch vermitteln.
(frei zitiert nach P. K. Steinmann aus „Figurentheater- Reflexion über ein Medium“ und „Die Theaterfigur auf der Hand“)

Figurentheater im pädagogischen Kontext

Als Mitglieder*innen des Netzwerkes haben wir die durch jahrelange, teils jahrzehntelange Erfahrung erleben dürfen, dass das Medium Figurentheater in jeglicher Form ganzheitlich auf die Entwicklung des Menschen einwirkt. Es fördert:

  • ästhetische Kompetenzen (z. B. Raumwahrnehmung, eigene Stilentwicklung, Wertschätzung von Material)
  • Selbstkompetenzen (z. B. Konzentration, Ausdauer, Selbstwahrnehmung)
  • soziale und emotionale Kompetenzen (z. B. Interaktion, Teamfähigkeit, Empathie, Hilfsbereitschaft)
  • Sachkompetenzen (z. B. handwerkliches Geschick, Umgang mit Figuren/Material, kognitive Fähigkeiten, Vorstellungsvermögen)

Diese Entwicklung lässt sich jedoch weder planen noch voraussehen. Je absichtsloser diese Kunstform eingesetzt wird und Kindern Raum zum spielerischen Entdecken bietet, desto eher besteht die Möglichkeit, dass sich das Individuum in eben diesem Raum frei entfalten und entwickeln kann. Ebenso verhält es sich im therapeutischen Zusammenhang, in dem das Figurenspiel mehr und mehr eingesetzt wird.

Gerald Hüther sagt dazu:
„In einem Puppentheater kriegt jeder, nicht nur der Puppenspieler, sondern auch vor allem der Zuschauer das Gefühl, er sei der Konstrukteur der Geschichte. Weil es nicht so realistisch ist, weil man es selber denken muss, was passiert, weil man Vorstellungskraft braucht. Damit erlebt sich in einer solchen Gemeinschaft von Zuschauern jedes Kind, jeder Teilnehmer als Gestalter, als Subjekt, als autonom.
Gleichzeitig erleben sie wie andere den gleichen Gestaltungsprozess in ihrem Hirn durchlaufen. Das schafft ein Gefühl von Verbundenheit und Glück in dieser Gemeinschaft, dass man sich da auch noch geborgen fühlt.“

(Symposium 2019 „Die menschliche Vorstellungskraft – Puppenspiel und Neurologie“, Unima Deutschland e. V., Notebook 3.18)

Bei allem Einsatz von Figuren und Figurentheater ist es uns wichtig und erscheint uns unerlässlich, das Kind in seinem jeweiligen Entwicklungsstand als fertige Persönlichkeit anzusehen ganz im Sinne P. K. Steinmanns:

„Das Kind steht im Mittelpunkt des Figurentheaters, ist sozusagen Maßstab und Kriterium. […]
Bis zum 12. Lebensjahr durchlaufen Kinder drei Phasen: Wahrnehmung – Analyse – Reproduktion
bis zu 3 Jahren: Phase des Erkennens als Voraussetzung zur Wahrnehmung (z. B. Umwelt, eigene Extremitäten, Stimme etc.)
bis zu 6 Jahren: Erkennen und speichern ( Formulierungsversuche, Fragen,
Umwelterweiterung über häuslichen Rahmen hinaus)
bis zu 8 Jahren: Speichern (z. B. Schule, Bücher, Begegnungen)
bis zu 10 Jahren: Speichern und Analyse (Herstellen von Gedankenverbindungen; Ziehen von Schlüssen, Nachvollzug von Gedankenverbindungen)
All das als Voraussetzung für die Reproduktion.
Somit ist jede Begegnung des Kindes mit (Figuren)theater lehrhaft, also pädagogisch.“

(Auszug aus P. K. Steinmann, „Figurentheater – Reflexion über ein Medium“; S. 84-85)